Hilfe für Flüchtlinge: „Wir möchten die Menschen erreichen"

Veröffentlicht am: 4. August 2021

Manche Flüchtlingskinder haben noch nie eine Schule besucht. Gründe hierfür sind der Krieg in ihrem Heimatland und dann die Corona-Pandemie. Wie können diese Kinder und ihre Familien erreicht werden? Wie können Migranten erreicht werden, die in den Außenbezirken der Metropole wohnen. Diese Fragen stehen im Fokus der Arbeit von Don Bosco Istanbul. Pater Simon Härting SDB erzählt von den zukünftigen Herausforderungen.

Wie ist die aktuelle Corona-Situation?

Pater Simon Härting: Allgemein ist die Situation entspannter. Die Inzidenz ist auf unter 50 gesunken und die Impfungen nehmen immer mehr zu. Das liegt auch an dem wirtschaftlichen Druck, der auf der Türkei lastet. Die Wirtschaft braucht nach der Krise dringend neue Impulse.

Für die Flüchtlinge ist die Situation noch schwierig. Rund 95 Prozent haben ihre Arbeit durch Corona verloren. Die einzigen Jobs, die es noch gibt, sind als Übersetzer im Bereich der Haartransplantationen. Schönheitsoperationen erfahren zurzeit einen Boom, das ist ein lukratives Geschäft und viele Kunden kommen aus dem Ausland, viele auch aus Deutschland.

Wie hilft Don Bosco den Flüchtlingsfamilien?

Pater Simon Härting: Die Nothilfefonds, die wir für die Familien im letzten Jahr eingerichtet haben, werden auch jetzt noch stark angenommen. Der Andrang am Anfang war so groß, dass wir schließlich Termine vergeben mussten. Es standen Schlangen vor unserer Einrichtung. Jugendliche haben uns bei der Koordinierung geholfen. Sie haben z.B. die Familien per Whats App informiert. Zeitweise haben wir  125 Flüchtlingsfamilien pro Woche versorgt: mit Lebensmittelpaketen, Medikamenten, Hygieneartikeln und auch Miethilfen. Auch Bestattungskosten haben wir in unserem Budget eingeplant. Glücklicherweise war der Bedarf hier nicht so groß. Ab November 2020 haben wir auch Kleidung an die Flüchtlinge abgegeben, wie z. B. Winterschuhe für die Kinder.

In diesem Zeitraum gab es auch drei bis vier Geburten unter den Familien.  Die Behandlungen in den Krankenhäusern, wie ein Kaiserschnitt, sind nicht immer kostenlos. In diesem Fall haben wir die Krankenhausbehandlung bezuschusst.

Was war Ihnen besonders wichtig?

Pater Simon Härting: Wichtig war es uns, sich ein bisschen Zeit für die Menschen zu nehmen. Bei den Terminen war immer auch ein Übersetzer dabei. Wir wollten eine lockere, entspannte Atmosphäre schaffen und auch mal zusammen lachen. Für mich persönlich war die Situation manchmal belastend. Wir haben so viele dramatische Geschichten gehört – praktisch im Minutentakt. Das beschäftigt einen sehr. Ich bin dann am Bosporus joggen gegangen, um den Kopf wieder frei zu bekommen.

Gab es auch Erfolgsgeschichten?

Pater Simon Härting: Viele Flüchtlinge leiden unter Mangelernährung. Sie sind teilweise nur Haut und Knochen. Eine junge Frau war auch darunter, sie ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Wir überlegten schon sie ins Krankenhaus einweisen zu lassen. Aber dann habe ich sie nach einer längeren Zeit wiedergesehen und praktisch nicht erkannt. Sie hatte sich unglaublich erholt und sah wieder gut aus, dank der gesunden Nahrungsmittel, die sie sich mit unseren Zuschüssen kaufen konnte. Das sind dann Erfolgsgeschichten, die einen aufbauen.

Wie sieht es mit der Seelsorge aus?

Pater Simon Härting: Das pastorale Angebot ist immer noch sehr wichtig. Wir haben in dieser Zeit z.B. viel mehr Anrufe erhalten, vor allem über Whats App. Viele junge Menschen nehmen das seelsorgerische Angebot auch heute noch gut an.

Was sind die zukünftigen Herausforderungen?

Pater Simon Härting: Die Corona-Situation hat uns vor große Herausforderungen gestellt. Wir mussten sehr schnell digitale Formate entwickeln und alles umgestalten. Jetzt nach 1 1/2 Jahren haben sich viele so sehr daran gewöhnt, dass manche gar keine Präsensveranstaltungen mehr wollen. Selbst beim Gottesdienst, der jetzt ab Sonntag wieder in Präsenz durchgeführt werden kann, werden wir gefragt, warum wir nicht den Online-Gottesdienst fortsetzen. Die Leute haben immer noch Angst, sich anzustecken. Viele afrikanische Flüchtlinge möchten auch weiterhin digitalen Unterricht für ihre Kinder. Sie wohnen sehr weit außerhalb und brauchen zwei Stunden bis zur Schule und dann auch wieder zurück.

Es gibt Kinder in den Flüchtlingsfamilien, die waren noch nie in einer Schule. Sie waren auch noch nie im Oratorium. Auch hier stellt sich die Frage, wie erreichen wir diese Kinder am besten.

Unsere wichtigste Aufgabe wird es sein, zu prüfen, was in Zukunft sinnvoll und notwendig ist. Wir werden eine genaue Sozialraumanalyse machen und prüfen:  Welche Bedürfnisse haben die Menschen? Wie sind ihre Befindlichkeiten? Könnte es eventuell auch sinnvoll sein, einen zusätzlichen Einrichtungsstandort zu wählen. Damit wir so näher bei den Menschen sind, die unsere Hilfe brauchen. Das werden wir uns jetzt alles ganz genau anschauen und reflektieren.

Das Interview führte Kirsten Prestin im Juli 2021