Interview mit Sr. Rosy Lopez: „Die Kinder fühlen sich verloren”

Veröffentlicht am: 3. Februar 2021

Bangalore/Indien – Don Bosco Schwester Rosy Lopez aus Bangalore ist seit acht Jahren Direktorin des Centre for Development and Empowerment of Women Society (CDEW Society). Im Interview erzählt sie, was es für Kinder und Jugendliche in Indien bedeutet, nicht mehr zur Schule gehen zu können. Seit März 2020 sind die staatlichen Schulen aufgrund der Covid-19 Pandemie geschlossen.

Welche Auswirkungen haben die Schulschließungen?

Schwester Rosy Lopez: Alle Abschlussprüfungen an Schulen und Hochschulen konnten nicht mehr durchgeführt werden. Einige Prüfungen wurden später digital abgehalten. Mittlerweile gibt es auch die Genehmigung für Online-Unterricht. Privatschulen haben deshalb seit Mitte Juni mit digitalen Unterricht gestartet. Für die staatlichen Schulen ist das aber ein Problem. Nur in wenigen Bundesstaaten konnte der digitale Unterricht eingeführt werden. Das liegt vor allem daran, dass Eltern ihre Kinder im digitalen Unterricht nicht unterstützen können. Sie haben meistens selber keine Schulbildung. Gerade kleinere Kinder aber brauchen Hilfe beim digitalen Lernen. Für größere Kinder ist das etwas einfacher.

„Depressionen und Ängste haben zugenommen.“

Hinzu kommt, dass viele Familien kein Handy mit Wlan oder WhatsApp besitzen. Und wenn es ein Handy im Haushalt gibt, dann müssen sich das oft 3-4 Geschwister teilen. Die meisten Familien haben gar keinen Internetzugang. Betroffen sind vor allem Kinder in Slums oder kleineren Dörfern. Hinzu kommt, dass die Kinder nicht mehr rausgehen dürfen. Sie können nicht mehr draußen spielen oder ihre Freunde treffen. Das hat verheerende Folgen. Die Kinder wissen nichts mehr mit sich anzufangen, hängen herum und versuchen irgendwie die Zeit totzuschlagen. Die Isolation ist sehr belastend und führt zu psychischen Störungen. Manche junge Menschen werden depressiv, sehen keinen Ausweg mehr und nehmen sich das Leben.

Wie ist die Situation für die Eltern?

Die Eltern haben gar keinen Einfluss mehr darauf, was ihre Kinder sich den ganzen Tag lang tun oder auch im Fernsehen anschauen. Manche Eltern gehen jetzt nicht mehr arbeiten, um die Kinder nicht alleine zu lassen. Vor dem Lockdown waren die Kinder im Kindergarten oder in der Schule. Manche Frauen, die arbeiten gehen müssen, schließen ihre Kinder in der Wohnung ein. Das ist meistens nur ein einziger Raum. Neun bis zehn Stunden verbringen die Kinder dort – mit dramatischen Folgen für ihre ganzheitliche Entwicklung und auch der Gefahr von Gewalterfahrungen und Missbrauch.

Was bereitet Ihnen am meisten Sorge?

Unsere größte Sorge ist die Zukunft der Kinder und Jugendlichen. Das betrifft vor allem die Kinder, die nicht am Online-Unterricht teilnehmen können. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, nicht
draußen spielen gehen und auch keine Freunde treffen. Das wird Spuren bei den Kindern hinterlassen. Sie sind ständig Stress ausgesetzt und werden depressiv. Und auch ihre intellektuellen
Fähigkeiten leiden, wenn sie nicht mehr gefordert sind.

Was brauchen die Kinder und Familien am meisten?

Vielen Familien geht es finanziell schlecht. Die Eltern haben ihren Job verloren oder arbeiten nur noch zwei Wochen im Monat. Tagelöhner finden keine Arbeit mehr. Auch kleine Unternehmer
stehen vor dem Aus. Während der Pandemie hat die Zahl an Selbstmorden zugenommen. Die Menschen sind verzweifelt, weil sie keinen Job, kein Geld haben und die Familie nicht mehr unterstützen können. Psychische Störungen, wie Depressionen sind gestiegen. Für viele Menschen ist Selbstmord der letzte Ausweg.

Finanzielle Hilfen sind notwendig

Die Auswirkungen in der Bevölkerung sind unterschiedlich: Arme Menschen sind am meisten von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen. Sie hungern und kämpfen ums Überleben. Familien der unteren Mittelschicht kommen mit der Situation etwas besser klar. Was diese Familien jetzt brauchen, ist nicht Bildung, sondern finanzielle Hilfen. Die obere Mittelschicht hält am Online- Unterricht fest, auch wenn sie dafür viele Opfer bringen muss.

Interview: Don Bosco Mission Bonn/Kirsten
Prestin; Fotos: Nishant Ratnakar/ichtv