Niemanden aufgeben, Pläne machen: Die Manege in Berlin

Veröffentlicht am: 26. Oktober 2021
Manege-Gebäude von außen, Bild: © katholisch.de/cph

Bild: © katholisch.de/cph

In manchen Vierteln gibt es Familien, die seit Generationen nicht mehr von Arbeit leben. Wie durchbricht man diesen Teufelskreis? Die Manege in Berlin macht vor, wie aus einem christlichen Menschenbild tätige Hilfe werden kann. Ein Besuch in Marzahn.

Der Bau der „Manege im Don-Bosco-Zentrum“ fällt durchaus auf: Direkt an der S-Bahn-Station Raoul-Wallenberg-Straße wölbt sich der Rundbau und umgibt mit Nebengebäuden einen kleinen Platz. Die besondere Wirkung des Hauses hat aber auch mit seinem Umfeld zu tun: Denn im Stadtteil Marzahn gibt es außer Brachen und Plattenbauten sonst nicht viel. Über die Stadtgrenzen hinaus hat er Bekanntheit erlangt – allerdings nicht im positiven Sinne.

Marzahn steht für Perspektivlosigkeit und soziale Probleme, allein eine Wohnadresse hier kann schon ein soziales Stigma sein.

In diesem Umfeld ist die Manege eine besondere Einrichtung, weil sie – das lässt sich an der schieren Größe der Gebäude bereits ablesen – eine Art sozialer Rundumschlag ist: Ob Unterkunft, psychologische Hilfe, fit machen für Schule, Ausbildung oder Arbeitsleben – hier gibt es alles für Menschen zwischen 16 und 25 Jahren, die im Leben nicht mehr weiterkommen. Das hat einen Hintergedanken: Wer es in die Manege geschafft hat, soll die Möglichkeit haben hier zu bleiben und durch die Beziehungsarbeit zu wachsen, um dann gestärkt in die Zukunft zu gehen. Bei der Tour durch das Haus steht also ein Parforceritt durch ganz verschiedene Seiten sozialer Unterstützung an.

Im Rundbau ist der prägendste Teil der Eingangsbereich, in den durch die Glasfassade viel Licht fällt. Hier gibt es Heiß- und Kaltgetränke zu zivilen Preisen, Spiele und Bücher. Es hat die Anmutung eines Jugendzentrums. Dies ist der niedrigschwelligste Teil der Arbeit in der Manege: Hier kann jeder hinkommen, der nicht weiß wohin mit sich und Hilfe braucht. Oft kommen Jugendliche durch die Empfehlung von Freunden hierher oder weil sie Werbung im Supermarkt oder im Internet gesehen haben. Das sind die sogenannten Selbstmelder. Zwei Drittel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden der Manege jedoch über Behörden wie das Jobcenter zugewiesen. So oder so – die Einrichtung hat sich einen Ruf erarbeitet.

Projekt von zwei Ordensgemeinschaften

Erik Mohring, Bild: © katholisch.de/cph

Erik Mohring, stellvertr. Leiter der Manege

In Marzahn ist die Manege seit 2005. Nach der Wiedervereinigung taten sich zwei Ordensgemeinschaften, die Salesianer Don Boscos und die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, zusammen und bündelten ihr Engagement. Bis dahin hatte es eine Einrichtung am Wannsee gegeben, die sich aber überlebt hatte. Also ging es ins Plattenbauviertel. Ein ehemaliges Verwaltungsgebäude des Bezirks wurde gekauft und umgebaut, zunächst ging es vor allem darum, für Jugendliche da zu sein, ihnen zuzuhören und Lebensperspektiven zu erarbeiten. Mit den Jahren wurde das Angebot dann immer weiter ausgebaut. „Wir haben uns an den Bedürfnissen der jungen Leute orientiert“, erzählt Erik Mohring, der stellvertretende Leiter der Einrichtung. „Zunächst ging es um einen Ort zum Schlafen. Bald stand aber auch die Frage im Raum, was mit den Menschen passieren muss, damit sie mehr Teilhabe an der Gesellschaft haben – und da ging es dann auf einmal um schulische Bildung und den Weg in eine Berufsausbildung.“

Das ist bei vielen leichter gesagt als getan. „Es gibt hier Familien, die in der dritten Generation schon nicht mehr von Erwerbsarbeit leben“, so Mohring. „Am Morgen aufstehen und pünktlich irgendwo sein, das spielt da schon seit langem keine Rolle mehr.“ 70 Prozent der Jugendlichen, die in die Manege kommen, haben keinen Schulabschluss, 95 Prozent keine Berufsausbildung. Und wenn auch deren Kinder keinen Arbeitsalltag kennenlernen, kann sich die Erwerbslosigkeit weitervererben. Es geht hier also um Grundsätzliches.

Die Manege bietet den Jugendlichen eine feste Tagesstruktur aus Schulunterricht, Berufsorientierung und sozialen Angeboten. Die meisten haben mit dem System Schule schlechte Erfahrungen gemacht, haben die Schule verweigert. Sie müssen nach und nach wieder für das Lernen gewonnen werden – und Elementares wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Englischkenntnisse vermittelt bekommen. Dazu kommt dann die Arbeit mit Holz, Metall oder Farbe, in der Haustechnik oder der Hauswirtschaft. Das soll den Grundstein für das Berufsleben legen.

Niemanden wegschicken

„Wir sind die, die ansprechbar sind. Wir sind die, die niemanden wegschicken, eine offene Tür haben und mit den Jugendlichen einen Plan für das Leben bauen“, sagt Mohring. Denn die Kriterien für Lebensqualität sind sehr verschieden. „Ein warmes Zimmer, essen und eine Konsole können da leicht genügen.“ Nicht wenige Jugendliche haben ihren Stadtteil noch nie verlassen. Urlaub, Kultur, vielfältige Interessen? Das kommt in ihrem Alltag oft nicht vor. „Da ist das Bedürfnis oft gar nicht da, am Leben was zu ändern. Wir wollen zeigen, dass es mehr im Leben gibt als nur das hier.“ Es sollen also Perspektiven entwickelt und dann auch umgesetzt werden.

Werkstatt Bild: © katholisch.de/cph

Die Schubkarren sind für den Kindergarten gedacht.

Dieser Weg ist nicht einfach, weiß Leon. Als es in der Schule nicht gut lief, warf er das Handtuch und kam sechs Wochen nicht. Den verlorenen Stoff konnte und wollte er nicht nachholen. „Ich hatte keinen Bock mehr auf den Müll“, sagt der heute 23-Jährige. Also saß er nur seine Zeit ab, verließ die Schule ohne Abschluss. Dann wurde er herumgereicht. „Ich war lange Zeit in verschiedenen Maßnahmen und wurde von A nach B geschickt“, erzählt er. Er verbrachte seine Nächte mit Videospielen und kam dann morgens nicht aus dem Bett. Der falsche Weg, sagt er heute, aber ohne alle Verpflichtungen auch eine bequeme Zeit. Erst in der Manege merkte er, dass sich jemand für ihn interessierte. Die Geburt seiner Tochter gab dann den Ausschlag: „Ich habe gemerkt, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich will ihr ein Vorbild sein.“ Jetzt holt er seinen Hauptschulabschluss nach.

Der Sozialarbeiter Dominik Meyer führt durch das Haus, zuerst geht es in die Küche, einen der Berufsbereiche. Eine Hand voll Jugendliche kochen hier. Ein paar Räume weiter ist die Haustechnik untergebracht, dort werden kleine Schubkarren für den Kindergarten zusammengeschraubt, der bald eröffnet werden soll. Die jungen Leute grüßen den Sozialarbeiter oder machen einen Witz, man kennt sich gut. Meyer arbeitet seit zweieinhalb Jahren in der Manege. „Natürlich ist es schlecht, dass man in unserer Gesellschaft erst etwas gilt, wenn man Arbeit hat. Aber es ist nun mal so. Wichtig für uns ist es, dass unsere Jugendlichen Teil der Gesellschaft sind und das auch merken.“ Für die Jugendlichen ist also viel zu tun: Einen Tagesablauf einüben, seelisch auf die Beine kommen, sich beruflich orientieren und einen Plan für die Zukunft machen – und das alles in einem Jahr. Ein straffes Programm. „Wir machen mit den Jugendlichen so viel, wie sie können. Manche kommen am Anfang nur drei Stunden pro Tag zu uns, später fünf, dann acht – je nachdem, wie viel sie schaffen.“ Wer eine grobe Idee hat, wo es beruflich hingehen soll, kann externe Praktika machen – dann muss der geregelte Tagesablauf aber schon eingeübt sein.

Herausforderungen und Rückschläge

Es lässt sich leicht erahnen: Bei so vielen Herausforderungen gibt es Rückschläge. Praktika werden abgebrochen, Konflikte in Familie oder Partnerschaft kommen zurück wie manchmal auch die Sucht. Doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Manege wollen die Jugendlichen nicht hängen lassen. „Auch nach dem dritten versemmelten Praktikum können die Leute immer noch zu uns zurückkommen“, sagt Meyer – das unterscheidet die Einrichtungen von anderen ihrer Art.

Terrasse Bild: © katholisch.de/cph

Die Terrasse in dem kleinen Garten
auf der Rückseite wurde selbst gepflastert.

Ein Gebäude weiter sind die Werkstätten für Holz, Metall und Farbe. Zwei junge Frauen sind hier gerade mit Malen beschäftigt. Allerdings planen sie keinen Wandanstrich, sondern gestalten kleine, kreative Projekte. An etwas länger dran sein, es weiterverfolgen, das steht im Vordergrund. Diese auf den ersten Blick zweckfreie Beschäftigung erklärt Meyer so: „Wenn man morgens mal nicht aus dem Bett kommt, geht da die Welt nicht unter, sondern man kann immer wieder andocken.“ Wer gesetzter und verlässlicher ist, der kann im Anschluss auch in der einrichtungseigenen Manege-Firma mitarbeiten, um zu lernen, wie es ist, ein Arbeitnehmer zu sein. Deshalb sieht die Welt dort schon anders aus. “Da ist es dann schon schwieriger, wenn man zum Arbeitsbeginn nicht auftaucht, aber auch damit arbeiten wir erstmal weiter, niemand wird direkt gekündigt. Trotzdem wählen wir die Jugendlichen dafür

Um das Haus ist allerhand zu sehen, was die Jugendlichen selbst geschaffen haben. Aus einer Holzspende wurde ein Pavillon, in dem sich heute vor allem Raucher treffen. Die Terrasse in dem kleinen Garten auf der Rückseite wurde selbst gepflastert. Auch, wenn es hier keine Ausbildungsprüfungen zu verteilen gibt: Die Manege versucht, in einem sicheren Raum Kenntnisse zu vermitteln, „damit die Jugendlichen halbwegs sicher durch das erste Lehrjahr kommen“, sagt Meyer. Denn der erste Arbeitsmarkt ist ein Schritt rein in die Welt, der auch nach einem Jahr Vorbereitung noch einiges an Koordinationsarbeit und Disziplin von den Jugendlichen erfordert. Da kann es nicht schaden, einen kleinen Vorsprung zu haben.

Lücken im Lebenslauf

Auch mit einem Hauptschulabschluss und einer Ausbildung haben es die Jugendlichen nicht leicht in der Arbeitswelt, denn die Lücken im Lebenslauf bleiben. Deshalb zielt die Manege bewusst auf handwerkliche Tätigkeiten. Die sind auch ohne hohe formale Bildung erreichbar und solche Kräfte werden auf dem Arbeitsmarkt gesucht. Zwei Drittel der Jugendlichen in der Manege machen den nächsten Schritt, finden eine Wohnung, gehen wieder zur Schule oder fangen eine Ausbildung an. Was später mit ihnen passiert, kommt in der Einrichtung oft nicht an. Man hört aber zwischendurch voneinander, etwa wenn die jungen Erwachsenen doch noch einmal Hilfe bei Formularen brauchen.

Das zeigt: Aus einer Welt ohne Perspektiven herauszukommen, ist für die Jugendlichen ein Kraftakt. Ohne Vorbilder im Umfeld arbeiten und Disziplin lernen, gegen das Marzahn-Stigma strampeln – das bedeutet eine Leistung. Und auch die Manege erreicht natürlich nicht jeden. Erfolgreich in einem bürgerlichen Sinne ist, wer das auch persönlich will. 

Das christliche Menschenbild als Ursprung

Wilhelm Steenken Bild: © katholisch.de/cph

Salesianerpater Wilhelm Steenken

Das Motto der Manege ist dabei: Niemanden aufgeben. Hier findet auch Unterschlupf, wer aus anderen Einrichtungen geworfen wurde – nur Gewalt ist eine der Grenzen, die hier niemand übertreten darf. Der Ursprung ihrer Grundhaltung, so sagen sie es hier selbst, ist ihr christliches Menschenbild. Obwohl von zwei Ordensgemeinschaften getragen, ist das Christliche aber eher subtil Teil des Ganzen: Für die hier lebenden Brüder und Schwestern gibt es eine Hauskapelle, im Foyer hängt ein Portrait Don Boscos – sonst hat das Haus nicht den typischen Look ähnlicher kirchlich geleiteter Einrichtungen. „Evangelisierung ist nicht unser vorwiegendes Ziel, sondern wir wollen da sein, helfen“, sagt der Salesianerpater und Niederlassungsdirektor des Don-Bosco-Zentrums Wilhelm Steenken. „Auch Jesus hat nicht nach dem Glauben gefragt. Die Menschen haben immer erst das Heil erfahren.“ Existentielle Fragen kämen bei den Jugendlichen durchaus auf, „dann stehen wir mit unserem Zeugnis da. Aber das ist keine Grundbedingung für unsere Hilfe“.

Die Nöte und Anliegen der Menschen aufzunehmen ist eine mehr als notwendige Aufgabe in der heutigen Gesellschaft, mahnt Steenken. Die Not der Jugendlichen sei nicht präsent genug. Ihre Armut sei nicht immer nur materieller Natur. „Sauber und satt reicht nicht in der Pflege und auch nicht bei Jugendlichen. Es braucht Zeit für Zuwendung, für Begleitung auf dem Weg und es braucht Menschen, die in der Lage sind, Geduld zu haben und zu helfen.“

Draußen am Raucherpavillon steht ein Jugendlicher, sichtlich aufgeregt. Er hat sich die letzte Zeit mit Bewerbungen schreiben beschäftigt – sein Jahr hier ist bald vorbei. Heute hatte er ein Bewerbungsgespräch. Um 5:30 Uhr ist er schon aufgestanden, erzählt er, um auf jeden Fall pünktlich zu sein. Das Gespräch ist anscheinend gut gelaufen. Er erzählt immer wieder davon: Früh aufgestanden, pünktlich da gewesen. Der nächste Schritt ist nahe, er verlässt bald die Manege. Aber er hat da einen im Freundeskreis, dem geht es nicht gut. Den will er bald hierherschicken.

Text und Fotos: katholisch.de/Christoph Paul Hartmann