„Sie müssen andocken können und scheitern dürfen“
Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen brauchen niedrigschwellige Angebote, Bindungsstabilität und Hilfe aus einer Hand, sagt Prof. Dr. Andreas Kirchner. Mit seinem neuen Buch liefert er Ansätze für Konzepte.
In Ihrem aktuellen Buch geht es um Konzepte für junge Menschen in schwierigen Situationen. Was kennzeichnet diese Gruppe?
Prof. Dr. Andreas Kirchner: Das Wichtigste: Wir sprechen hier von einer sehr heterogenen Gruppe. Es geht um junge Menschen im Alter von 15 bis 25, teilweise bis 29, die im Leben besonders belastet und erhöht auf Unterstützung angewiesen sind. Sie haben Probleme, eine schulische oder berufliche Ausbildung anzugehen oder abzuschließen, kontinuierlich ein Arbeitsverhältnis einzugehen und an die Gesellschaft anzudocken.
Zur Erfassung dieser Gruppe werden verschiedene Begriffe benutzt, wie NEETs, Systemsprenger oder Entkoppelte. Welchen favorisieren Sie?
Um sie statistisch zu erfassen, funktioniert der Begriff NEETS (not in education, employmant or training) ganz gut, weil darunter konkrete Merkmale erfasst werden: nicht in Schule, nicht in Ausbildung, nicht in Erwerbsarbeit. In meinem Buch stelle ich aber den Begriff der schweren Erreichbarkeit in den Fokus. Erstens ist er am breitesten angelegt und kann andere Begriffszugänge vereinen. Zweitens erlaubt der Begriff, in unterschiedliche Richtungen zu schauen: in die Richtung der jungen Menschen, aber auch in die Richtung der Soziallogiken. Und drittens ist es der einzige rechtliche Begriff, der explizit im Sozialgesetzbuch steht.
Bitte erklären Sie das mit der Erreichbarkeit in unterschiedliche Richtungen näher.
Nicht nur die jungen Menschen sind schwer erreichbar, sondern auch die Ämter und Träger. Nehmen wir als Beispiel ein Amt, bei dem ein junger Mensch in einem Moment, in dem er dafür offen ist, Hilfe sucht. Gerade in den Zeiten von Corona geht alles nur mit Termin – den muss ich erstmal ausmachen, um überhaupt in das Amt hinein zu dürfen. Dann werde ich im Eingangsbereich von einem uniformierten und vielleicht bewaffneten Sicherheitsdienst gefragt, wer ich bin und wohin ich will – da fühle ich mich vielleicht schon wie ein Verdächtiger. Außerdem stellen sich beim Amt die Fragen nach örtlicher und sachlicher Zuständigkeit. Vielleicht kann ich mein Anliegen nicht genau benennen oder das Amt ist gar nicht zuständig, weil ich in einer anderen Kommune gemeldet bin, und schickt mich weg.
Das schreckt also junge Menschen in schwierigen Situationen ab?
Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass es immer schwieriger wird, junge Menschen zu erreichen, je mehr es zu Bindungsabbrüchen kommt. Aber genau das passiert in Ämtern, wenn örtliche und sachliche Zuständigkeiten zu Unterbrechungen oder Weiterverweisungen führen. Für viele von uns mag das funktionieren, weil wir gelernt haben, dass es unterschiedliche Personen für unterschiedliche Dinge gibt und dass nicht alle immer erreichbar sind. Aber für ein bestimmtes Klientel ist es schwierig, sich nicht abschrecken zu lassen und sich entsprechend zu organisieren.
Eine Ursache für diese Thematik sind die verschiedenen Rechtskreise hier in Deutschland. Können Sie das kurz erklären?
Es gibt zu viele Bruchstellen und die Leistungen zerfasern. Kinder und Jugendliche fallen aus Hilfen heraus, weil sie von unterschiedlichen Institutionen geleistet oder finanziell anderen Töpfen zugeordnet sind. Zunächst einmal ist die Förderung schwer erreichbarer junger Menschen originäre Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe nach Sozialgesetzbuch (SGB) VIII – aber bisher häufig nur bis zum 18. Lebensjahr. Die Reform des SGB VIII im Zuge des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes sollte da eine Veränderung bringen. Außerdem relevant sind das SGB II mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende und dem Jobcenter, das SGB III mit der Arbeitsförderung und der Agentur für Arbeit sowie in einem nachgeordneten Sinn das SGB XII mit der Sozialhilfe und ihren Trägern.
Was bräuchte es da?
Es braucht Schnittstellen, also gemeinsame Angebote vor Ort wie Jugendberufsagenturen, die Erreichbarkeit erzeugen und Fenster schaffen. Deswegen sind integrative Angebote sehr wichtig und sehr interessant, weil sie ganz unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten bieten. Auf einer anderen Ebene brauchen wir Kooperationsverpflichtungen zwischen den verschiedenen Rechtskreisen. Derzeit gibt es im Sozialleistungsrecht nur die Formulierung „sollen zusammenarbeiten“, nicht „müssen zusammenarbeiten“. Außerdem führen sogenannte Kollisionsregelungen dazu, dass jeder Sozialleistungsträger in der Regel erst mal schaut, ob nicht ein anderer Sozialleistungsträger zuständig sein könnte.
Was erleichtert den jungen Menschen den Zugang zu Leistungen?
Niedrigschwelligkeit ist ein Kernelement. Das kann ein offener Treff bieten, wo ich einfach hingehen kann und was zu essen bekomme. Es gibt ein Klientel, das sich über eine warme Mahlzeit freut oder über einen trockenen Raum, in dem man sein Handy laden kann und ins Internet kommt. Im Idealfall ist die Anlaufstelle 24/7 erreichbar, sodass Jugendliche gleich andocken können, wenn sie ein Problem haben und offen für Hilfe sind. Aber die Niedrigschwelligkeit muss auch Diskontinuität aushalten: Die jungen Menschen müssen auch scheitern dürfen – sie müssen auch wegbleiben dürfen und wiederkommen können. Sie brauchen feste Bezugspersonen, die sie so annehmen, wie sie gerade sind, und bemerken, um was genau es gerade geht.
Das klingt schon komplex. Welche Probleme gibt es bei der Umsetzung?
Wir bräuchten faktisch eine Finanzierung, die nicht über Fachstunden abgerechnet wird. Und genau das ist das Problem. Ich müsste das Projekt also erstmal ausstatten – unabhängig davon, ob Teilnehmer kommen oder nicht. Da sollten die öffentlichen Träger in Vorleistung gehen und Erreichbarkeit erzeugen, damit beispielsweise das Personal da ist, wenn jemand kommt.
Wie kann Ihr Buch dabei helfen?
Wenn eine Einrichtung ein Projekt finanziert bekommen möchte, muss sie Begründungen und ein Konzept liefern. Mit dem Buch wollen wir ein Rahmenkonzept bieten, mit dem Träger an die Sozialpolitik herantreten und sie auffordern können, für bestimmte junge Menschen auch etwas Besonderes zu tun. Deswegen umfasst das Buch auch zu einem großen Teil Handlungsaufforderungen, die sich ableiten lassen aus rechtlichen Normen, internationalem Recht, Sozialethiken – und aus einer ganz konkreten salesianischen Perspektive heraus.
Was ist das Besondere an der salesianischen Perspektive?
Was Don Bosco im 19. Jahrhundert gemacht hat, war einfach toll: Er hat Anlaufstellen für junge Menschen geschaffen – unabhängig von der Finanzierung, einfach weil es ihm um das Wohl junger Menschen ging. Da schwingt sehr viel Idealismus mit. Das ist erstmal nicht Profit-orientiert, sondern einfach ein Gang ins Ungewisse. Damit verbunden sind prägende pädagogische Ideen und ein sozialpolitisches Einwirken.
Interview: Simone Utler
Prof. Dr. Andreas Kirchner hat Sozialpädagogik und Philosophie studiert, in Soziologie promoviert und war viele Jahre in der Jugendarbeit tätig. Seit 2012 lehrt er an der Katholischen Stiftungshochschule in München. Im Herbst 2021 ist sein Buch „Prekäre Positionen. Perspektiven für die Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen“ erschienen, das ein Rahmenkonzept für die Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen in Einrichtungen der Salesianer Don Boscos darstellt.